Ein emotionales Essverhalten kann sich in vielen verschiedenen Facetten zeigen und beeinträchtigt Betroffene im Alltag entweder ganz offensichtlich und regelmäßig oder nur in einzelnen Situationen. Doch warum kann es sein, dass ein „sich überessen“ im Alltag kein Problem darstellt, sondern vielmehr situativ im „geselligen“ Umfeld auftritt, zum Beispiel zu Familienfeiern, persönlichen Verabredungen, Geschäftsessen oder aber während Diskussionen mit Partnern*innen? Und vor allem: welche Möglichkeiten gibt es, sich dabei besser selbst zu begegnen?

Die Tendenz zum Überessen in Gesellschaft ist keine Seltenheit und oft wird das „Problem“ mit sich allein ausgemacht. Es gibt keine Rechtfertigungsgrundlage, sich selbst dafür zu verurteilen oder Wut über die eigene vermeintliche Disziplinlosigkeit entstehen zu lassen. In Wahrheit stehen hinter diesem Verhaltensmuster oft ganz andere Bedürfnisse. Deren Nichterfüllung wird durch ein Zuviel an Essen in den einzelnen Situationen auf unterbewusster Ebene nur überdeckt, weil der Kontakt zu sich selbst bzw. das Gespür für körperliche Hunger- und Sättigungssignale nicht aufrechterhalten werden kann.

Durch übermäßiges Essen aus einer emotionalen Bedürftigkeit heraus, wird eine psychologische Stützfunktion realisiert.
...die aber nicht nachhaltig wirksam ist.
Die Bedeutung Einer bewussten Wahrnehmung

In den Momenten, wo das natürliche Wechselspiel zwischen Hunger und Sättigung funktioniert und sich bei einer Mahlzeit spürbar ein zunächst subtiles, aber langsam intensiver werdendes Gefühl der Sättigung einstellt, findet Bewusstsein statt. Der Kontakt zu den vom Körper ausgesendeten Signalen besteht und die damit verbundene Handlung bedeutet, dass Mahlzeiten auf Basis von bewussten Entscheidungen beendet werden. Wird das „Ich bin satt“-Signal nicht wahrgenommen, so ist es meistens erst das bekannte Völlegefühl, was aufzeigt, dass über den körperlichen Hunger hinaus gegessen wurde. Doch gerade in Gesellschaft neigen wir dazu, beim Essen abgelenkt zu sein – es wird beispielsweise ein tiefgründiges Gespräch geführt und gleichzeitig wandert Happen für Happen in den Mund, ohne dass die eigene Wahrnehmung darauf gerichtet ist. Als Konsequenz wird das Sättigungsgefühl überhört. Das „im Außen sein“ durch Ablenkung ist ein häufiger Grund, weshalb in Gesellschaft oft bis zum unangenehmen Völlegefühl gegessen wird. Im simpelsten Fall, wurde über den Tag hinweg zu wenig gegessen, sodass der Hunger riesig ist und deswegen bei gegebener Möglichkeit viel zu schnell und viel zu viel gegessen wird. Auch hier ist die Gefahr groß, das „Ich bin satt“-Signal zu verpassen. Oft liegt die Ursache allerdings auf einer tieferen Ebene und das Essen nimmt eine Art psychologische Stützfunktion ein.

Essen als kurzfristige Beruhigung für das Nervensystem

Essen beruhigt, lässt Wohlgefühle entstehen und trägt somit dazu bei, dass es uns besser geht. Nachhaltig ist diese Wirkung allerdings nicht. Trotzdem passiert es, dass übermäßiges Essen immer wieder als Stütze genutzt wird, um beispielsweise Anspannung, Unruhe, Wut oder Unwohlsein besser bewältigen zu können. Aus unterschiedlichen und persönlichen Gründen kann es sein, dass diese Gefühle auftreten, wenn wir in Gesellschaft sind. Auf unterbewusste Ebene fühlen wir uns vielleicht innerlich angespannt oder unwohl. Das kann ein Abendessen mit Bekannten sein, das wir am liebsten absagen und nach einem stressigen Tag in Wahrheit allein sein wollen. Nun stehen wir aber unter Druck, möglichst gut gelaunt und freundlich wirken zu müssen, weil die Angst auf der Schulter sitzt, die anderen könnten sonst schlecht über uns denken. Das Ergebnis von bedürfnisbezogener Ignoranz auf emotionaler Ebene führt in Konsequenz dazu, dass wir uns als „Ausgleich“ überessen.

Die Gründe für ein emotionales Essverhalten können durchaus auch ``positiver`` Art sein - wie zum Beispiel Vorfreude und Aufregung bei einem Date.
Ein bewusster Anker zur inneren Beruhigung kann hierbei helfen.

Ein weiteres Szenario könnte sein, dass es eine Streitsituation mit dem eigenen Partner oder der Partnerin gab. Auch hier ist die Atmosphäre angespannt, weil vorher vielleicht laute Worte geprägt von Wut und Ärger durch den Raum von Mensch zu Mensch geschmettert wurden. Danach wird dennoch gemeinsam gegessen, während Schweigen in der Luft liegt. Auch hier ist das situative Potential groß, dass sich übergessen wird. Die Verbindung zu den Sättigungssignalen ist getrennt, weil das Essen in diesem Moment dem aufgebrachten Nervensystem Beruhigung verschafft.

Doch nicht immer muss es ein tendenziell unangenehmer Anlass sein, bei dem wir eine Neigung zum Überessen wahrnehmen können. Vielleicht ist es auch eine eigentlich mit Vorfreude erwartete Verabredung zum Brunch im Lieblingscafé, mit einem besonderen Menschen, mit dem man sich in der zarten Phase des Kennenlernens befindet. Dann kann es gut sein, dass ein Gefühl von Aufregung präsent ist oder auch die mit dem Unbekannten verbundene Unsicherheit, die oft schüchterne Menschen betrifft. Um das aufgeregt sein abzupuffern, gehen wir dann drei, vier oder fünfmal zum Brunch-Buffet. Mit Hunger hat diese Verhaltensstruktur allerdings nichts mehr zu tun, es ist vielmehr die psychologische Wirkung des Essens, das uns Halt gibt.

Den Kontakt zu sich selbst halten

Es ist nicht zu leugnen, dass Essen dem in Wallung geratenen Nervensystem zunächst eine Hilfe ist. Das Nervensystem strebt danach, sich zu entspannen und die im Unterbewusstsein verankerte Verhaltensstruktur sorgt schließlich dafür, dass Essen immer wieder als psychologische Hilfestellung eingesetzt wird. Diese Stütze wirkt allerdings nur kurzfristig und sobald sie nachlässt, kommt oft Ärgernis über das Zuviel an Essen auf, dass wie auf Autopilot in den Magen gelangt ist. Ja, neutral betrachtet mag es sich bei dieser Verhaltensstruktur um einen Beweis für die Intelligenz unseres Körpers handeln, der nach Sicherheit strebt. Trotzdem sprechen die negativen Aspekte, wie die Überlastung des Verdauungssystems (durch das Übermaß an Nahrung in kurzer Zeit) sowie die psychische Belastung (Schuldgefühle, Wut) dafür, dass wir uns selbst auf anderer bzw. konstruktiver Art begegnen sollten.

In den beschriebenen Situationen gelingt es betroffenen Menschen nicht, die Lücke zwischen Reiz und Reaktion zu nutzen. Sie nehmen sich selbst nicht wahr und verlieren den Überblick darüber, was und wie viel sie tatsächlich essen. Wer emotional nicht gänzlich abgestumpft ist, besitzt allerdings das Vermögen Anspannung, Unruhe oder Aufregung spüren zu können. Anfangs kann herausfordernd sein, sich selbst gezielte Fragen zu stellen, um die eigenen emotionalen Bewegungen zu erkennen. Aber das Wissen darüber, dass man zum Überessen in Gesellschaft neigt, bieten genau diesen Situationen die Lernchance, sich selbst wieder aktiv zuzuhören. Die Funktion und Bedeutung von Essen in Gesellschaft als psychologische Stütze kann deswegen nur überwunden werden, wenn der Kontakt zu sich selbst aufrechterhalten wird.

 

Strategien zur Vermeidung von Überessen in Gesellschaft

Bewusstseins-Anker setzen: Dabei kann es sich um einen beliebigen, aber prägnanten Gegenstand auf dem Tisch oder in deinem Sichtfeld im Raum handeln, den du zu Beginn der Mahlzeit identifizierst. Dieser Gegenstand, z. B. eine Blumenvase trägt die Aufgabe, dich während dem Essen immer wieder selbst wahrzunehmen, die Aufmerksamkeit mit einem bewussten Akt auf dich selbst und deine Bedürfnisse zu richten. Deinen Mitmenschen wird dieser Vorgang nicht auffallen.

Nachdem du auf den Gegenstand geschaut hast, legst du deine Hände in deinen Schoß und fokussierst dich achtsam auf deinen Atem. Vielleicht stellst du dabei fest, dass du vorher verkrampft warst und beim Essen nur sehr flach geatmet hast – lass deinen Atmen wieder frei fließen. Wenn du den Fokus zurück auf dich selbst gelenkt hast, kannst du dich fragen, wie es dir geht. Wie fühlst du dich – bist du ruhig und gelassen, oder eher angespannt und nervös? Hast du wirklich noch Hunger oder spürst du schon Sättigungssignale? Begegne dir immer mit Selbstfürsorge, egal wie die Antwort lautet – sei ehrlich zu dir und handle nach deinen Bedürfnissen. Es besteht immer die Möglichkeit, dich frei und sichtbar zu machen, entweder durch bewusste Kommunikation mit deinen Mitmenschen oder indem du kurz zur Toilette gehst und reflektiert entscheidest, was du tun wirst.

Diese Übung lässt sich auf unsichtbare Art und Weise in jede Situation gesellschaftlichen Essens integrieren bzw. ebenso unauffällig in die dabei stattfindenden Gespräche.


Häufig wird ein ähnliches Phänomen beschrieben: Überessen bei All-you-can-eat Buffets. Hierbei wird die Schwierigkeit genannt, bei der breiten Auswahl von ansprechenden Gerichten nicht maßlos weiter zu essen, bis der Magen übervoll ist. Grundsätzlich kann die oben beschriebene Strategie auch hier als Hilfestellung genutzt werden. Allerdings kommt die starke Tendenz des Überessens bei Buffets auch oft daher, dass sich das unkontrollierte Verlangen auf Lebensmittel richtet, die sich Zuhause verboten werden. Ich werde dieser Verhaltensstruktur daher einen separaten Beitrag widmen, um sie detaillierter beleuchten zu können.